Ulrich Holbein

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Nekrolog auf Ulrich Holbein? Nun ist auch er heimgegangen. Sagt er. Wir dagegen sind übrig, sagt er, um weiterhin hinwegzurollen über seine durchgeknallte Homuculus-Ästhetic, seine Metachemie des Lärms, sein Denkbilder-Buch über Naturprodukt und Kunstwerk, seine haarsträubenden Fortpflanzungsromane, samt der darin enthaltenen Apotheosen des Asketen und des Voyeurs, seine Puzzleromane, seine Einweihungsromane, seine Marstheater-Leselibretti, seine Kulturkritik, seine Barbareikritik, seine Naturkritik – er lebte gut sichtbar zurückgezogen im nordhessischen Knüllwald, unweit des Erlebnisparks Literatopia zwischen Knüllsee, Nausis und »Reni's Ruh«. Rief jemand ihn an, nahm nicht er ab, sondern ich. Nur einmal im Jahr ging er aus sich heraus, fuhr zur Buchmesse, was meistens ich übernehmen mußte und ab sofort nur noch ich. Manch einem Ansprechpartner versuchten wir existentielle Verwirrung zu bescheren, durch abwechselnde Terminwahrnehmung, mal er, mal ich. Doch keinem fielen jene optischen Unterschiede auf, auf denen ich bestehe.

Bevor er sich solide verankerte, ließ er vorsorglich los. Schon vorher hing er nur selten verbissen an sich selbst. Am lezten Sonntag ist er in aller Stille verstorben, frei nach Paulus: »Ich sterbe täglich« – ich und seine Lebensabschnittsgefährtin waren als einzige dabei, um seine letzten Aphorismen mitzuschneiden. Auf jeden davon setzte er noch einen. Sein Lieblingswort »Geschöpflichkeit« kam mindestens dreimal zum Zug. Bis zum Schluß stand er mit eleganter Pantomime über seinem ans Herz greifenden Geröchel. Als er von uns ging, war seine Witwe soeben aufs WC gegangen, ich also minutenlang allein mit ihm. Geboren 1953 in Erlangen (nach anderen Quellen in Erfurt), hinterläßt er drei Frauen, einen Mann und eine halbwüchsige Tochter. Ich verliere in ihm – nein, lassen wir das.

Da wir seit jeher unsere Werke, die nur von äußerst Eingeweihten unterschieden werden können, unter seinem Namen publizieren – unter welchem sonst? –, wodurch sich unsere Themenpalette und Widerspruchsvielfalt erklärt, ist mit seinem Tod kaum etwas anders für uns beide geworden. Diesmal starb er vor mir, das nächste Mal bin wiederum ich der Vorkoster. Solche Arbeitsteilung sind die Vorteile des Klonens.

Er starb, damit dieser Nekrolog keine Fiktion zu sein braucht, gegen die wir bekanntlich hochtheoretische Einwände haben. Andererseits ist an ihm, solange ich lebe, nicht viel verloren gegangen. Unsere extreme, bisher relativ geheimgehaltene Einigkeit macht uns vorerst keiner nach. Keiner – allenfalls ich in meiner Eigenschaft als Holbeins Rechtsnachfolger, Nachlaßpfleger und testamentarisch autorisierter Vollender seiner begonnenen Projekte – kann ermessen, was an unveröffentlichten Schriften noch  auf Freund und Depp zukommt, von denen ihn die einen weiterhin als ungekrönten König feiern werden im Gelächter der anderen, der für immer unter ihrem weiterhin sinkenden Niveau lachenden Kostverächter. Falls deren Mimik nicht unerhofft gerinnt, sobald sie sich plötzlich dem schwarzen Kern unseres trügerisch vor sich hin trällernden Œuvres gegenübersehen.

Wundere sich jedenfalls niemand über das nach seinem Ableben eher noch anwachsende Publikationstempo Ulrich Holbeins. Jeden Moment erscheint in Gestalt Diptychons unser 700 Seiten Briefroman »Guruduell« (bzw. »Wahnsystem« bzw. »Mini-Weltkrieg«), die Story einer Übersensibilität. Fener brüten wir seit nunmehr sieben Jahren an einem Riesenbuch über Entschleierung, 440  Seiten, 2,4 kg schwer, folgenreicher und bodenloser als Benjamins Passagenwerk, sodann an einem Philosophenroman, des Titels »Hirnwichser« oder auch »Denkbeule« – das Mißliche bleibt halt nur, daß wir jetzt nicht mehr mit restlos vollen Segeln fahren können, nein noch schlimmer, daß mein Bruder Ulrich nicht nur spielerischerweise, einem Gedankenexperiment zuliebe, sondern grausamerweise de facto starb, nach langen Leiden, und daß ich ab jetzt tatsächlich alles allein machen muß. Was für mich insofern eine doppelte Belastung darstellt, als ich an derselben Krankheit leide wie er. – Bald ist keiner von uns mehr da. Dann laufen überall nur noch die üblichen Autoren herum, Menschen wie du und ich.

Soviel für heute – jezt aber fleißig zurück zur Nachlaßpflege. Und vor allem zur Bestrahlung, die mir gleichfalls keiner abnehmen kann. Denn Nacht ist nun schon bald.

HIER ein kleiner Ausflug zur 16er-Reihe insgesamt!

 

Nekrolog auf den Ladenhüter

Nekrolog auf den Ladenhüter

Essays / Betrachtungen

  • 24 Seiten
  • 16er Reihe

978-3-929232-50-9

9.00 €           picture

Ulrich Holbein faßt 10 lang nicht mehr hergestellte (und benutzte?) Dinge ins Auge und führt uns ihre kleinen Eigenarten lebendig vor – die wir sehr vermissen!

Als da sind die Eisblume, der Lehrer Lämpel, der Diener, der König, Knacks und Sprung der nischen-daseienden Schallplatten, der Musikant, der Doppelgänger, Greis und Greisin, tja, und natürlich den dann doch unverwüstlichen, den immer frisch abzustaubenden, den long seller, den immer wieder und ewig weiter zu findenen: Ladenhüter.

HIER ein kleiner Ausflug zur 16er-Reihe, in der wir diese Dinge gerettet haben!

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