Dominique Ponçet

Unser Band »Junge Europäische Erzähler«, der auch in einer englischen Ausgabe erschienen ist, enthält Dominique Ponçets Erzählung »Nur Hereinspaziert …!«.

 

Dominique Ponçet ist 1957 geboren. Die eindrucksvolle Gebirgswelt um Ponçets Geburtsort Bellegarde sur Vals. nahe Genf spiegelt sich gewiß wieder in den hiesigen Texten, bei welchen es sich um zwei frühe Kapitel aus einem gerade entstehenden Roman handelt.

In der literarischen Öffentlickeit – auch über Frankreichs Grenzen hinaus – ist Dominique Ponçet besonders durch die Zeitschrift »Main du Singe« bekannt: eine schön gemachte Zeitschrift, die schon sein Vater herausgegeben hatte und die in loser Folge mit experimenteller Literatur und kulturgeschichtlichen Essays aufwartet. Diese Zeitschrift stellt eine Art Bindeglied zwischen Ponçets literarischer Arbeit und seinem früheren Brotberuf dar; denn über zwanzig Jahre hinweg arbeitete Dominique Ponçet als Journalist für den Rundfunk und für Zeitungen.

Dominique Ponçet kokettiert im Gespräch gerne damit, daß er „eigentlich nur Autobiographie“ schreibe. Wie sehr dies die Aussage eines eher schelmischen Künstlers ist, kann man schon daran ablesen, daß er als einen seiner Lieblingsschriftsteller Jean Paul nennt. – Sein Erzählen, das mit weitreichenden Anspielungen und Sprachspielen arbeitet, legt es denn auch nahe, hier – für diejenigen, die gerne detektivisch und mit genauen Lösungen lesen – einige Fußnoten anzufügen. Das ausladende Panoptikum dieser Anmerkungen mag seinerseits einiges über den Autor Dominique Ponçet aussagen:

Französische Buchhandelskette. (2) Sebastien Bottin (1764 bis 1853), Verfasser mehrerer Jahrbücher, Verzeichnisse und Branchenadressbücher. Nach ihm nennt man in Frankreich das Telephonbuch, als dessen Erfinder er gilt. In der Rue Sebastien-Bottin liegt das Stammhaus von Gallimard, dem Pariser Literaturverlag. (3) Wortspiel mit Pfändung und dem Garzustand von Fleisch. Hier: à point = „nicht blutíg“. (4) Ein in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sehr berühmtes Pariser Horror-Theater. (5) Der Titel eines der Bücher von Raymond Queneau. (6) Ausgesprochen seltener Fisch, der im »Grimm’schen Wörterbuch« vermerkt ist; im Original lautet dieser Fisch „hotu“. (7) Eigentlich hier „Pavillon“, mit der Anspielung auf Metzgereien der alten Pariser Markthallen. (8) Hier wortwörtlich. Eigentlich eine Rum-Bowle mit allerlei angesetzten Obstsorten. (9) Ostasiatische Sauce, deren Grundlage aus faulem Fisch besteht wie das altrömische „garum". (10) Der Kürbis zu „Halloween“. (11) Kleine Scall Boxes. (12) Großes Werk des „Art brut“ Künstlers Ferdinand Cheval (1836 bis 1924), genannt Le Facteur Cheval in Hauterives im Departement De la Drôme. (13) Marianne ist in Frankreich das bildliche Symbol der Republik. Die Statue, die normalerweise in jedem Rathaus steht, hat die Züge der aktuell „schönsten" Frau des Landes. Vor ein paar Jahren war es noch Brigitte Bardot, heute ist es Catherine Deneuve! (14) Das Exil-Wohnhaus von Victor Hugo auf der Kanalinsel Guernsey. (15) Das letzte Wort im Film „Citizen Kane“ von Orson Welles. (16) In Frankreich gängiges Antidepressivum. (17) Adjektiv zu Hugo; das „Meer“ ist eines seiner wichtigsten Romanthemen. (18) Hauptstadt des afrikanischen Staates Burkina Faso. Ironische Bezeichnung eines Lyoner Viertels mit großem schwarzem Bevölkerungsanteil. (19) Bezeichnung für das Altstadtviertel in den Städten Nordafrikas. Ironische Bezeichnung eines Lyoner Viertels, in dem vor allem Nordafrikaner wohnen. (20) Anfangsworte des utopischen Romans »Reise zu den Mondstaaten und Sonnenreichen (1657)« von Cyrano de Bergerac. (21) Anspielung auf den Titel eines philosophischen Dialogs von Fontenelle von 1686. (22) Gemeint ist das 1998 im Norden von Paris eingeweihte Fußballstadion, das Stade de France. (23) Der antike Autor soll, wenn er philosophisch „grübelte“, seine Ideen auf seine lederne Jacke gekritzelt haben. (24) Französische Schlagersänger. (25) Reb- und Weinsorten der Anbauregion Buget. Der Kiravi ist ein gewöhnlicher Rotwein. (26) Charles Vanel; französischer Schauspieler (1892 bis 1989). (27) Bedeutender belgischer Schriftsteller (1887 bis 1964). Verfasser von Detektivromanen und phantastischen Erzählungen. (28) Robert La Vigue, ein Pseudonym von Robert Levigant (1900 bis 1972), französischer Schauspieler. Enger Freund von Louis-Ferdinand Céline. (29) Französischer Maler (1910 bis 1964). (30) Kurz- oder Koseform für Dominique; im Französischen „Domino“.

SCA Junge Europäische Erzähler

SCA Junge Europäische Erzähler

5 Erzählungen

  • 202 Seiten
  • Hardcover
  • mit Lesebändchen und Schutzumschlag
  • 20 Euro
  • Vorwort von Hilmar Hoffmann

SCA

20.00 €           picture

Der Inhalt

 

Dokumente betreffend den Spieler Rubashov

Ein Roman-Anfang von Carl-Johan Vallgren

 

Das Innere der Insel

Eine Prosa von Katrin Heinau

 

Der Andere

Kurzgeschichte von Scott Bradfield

 

Sekundenewigkeiten

44 poetische Skizzen von Thomas Schwab

 

Nur Hereinspaziert!…

Ein Schriftstellerleben von Dominique Ponçet

 

Das Vorwort von Hilmar Hoffmann:

Europa als Narrativ: Wäre das nicht eine gute Idee? Damit würde es jedenfalls überflüssig, Europas Grenzen zu bestimmen und um ihren Verlauf zu rechten. Europa endete dann nicht am Ural, sondern einfach dort, wo seine Geschichten nicht mehr gehört, gelesen oder verstanden werden. Und es würde müßig, Europas Identität zu definieren, weil mit den Erzählungen (zu denen dann auch unsere eigenen Taten gehörten) Europa zu einer Geschichte ohne Ende wird, zu einer offenen Erzählung. Erzählen können ist die Voraussetzung dafür, das Verhältnis zur Wirklichkeit literarisch zu gestalten.

Im Grunde ist das die ganz alte Idee von Europa: Nur, wenn und solange es eine Geschichte mit offenem Ausgang ist, wird der Kontinent lebendig bleiben, weil die Menschen sich darin mit ihren Wünschen und Hoffnungen wiederfinden können.

Ein solches Europa darf kein Selbstzweck sein. Das Europa der Erzählungen findet seine Legitimation in der Qualität der Lebenschancen seiner Bürger, im motivierenden Reichtum der Entfaltungen seiner Künste und Äußerungen seiner Kultur und in seinem nachhaltigen Beitrag zu einer zukunftsfähigen und friedlichen Welt.

Europa gewinnt diese Qualität aber nur, wenn es seine eigenen Standards nicht veräußert. In den besseren Zeiten seiner Geschichte wurde entwickelt, was wir Europas kulturelles Erbe nennen, sein Beitrag zur heutigen Weltkultur. Dieses Erbe gehört ihm heute nicht mehr allein, und es kann nicht dabei stehenbleiben, sich immer wieder nur auf die gemeinsamen kulturellen Überlieferungen zu berufen – nein, statt Musealisierung der Werte müssen sie weiterentwickelt werden, um damit zu signalisieren: Die europäischen Ansprüche an ein menschenwürdiges Leben sind auch unter den Bedingungen der Globalisierung und der Krise der Moderne gestaltbar.

Dazu gehört es auch, extreme Unterschiede zwischen Arm und Reich nicht länger zu tolerieren. Solange Europa Armut und Elend unter seinen Bürgern um des ungezügelten Wettbewerbs der Wirtschaft willen billigend inkauf nimmt, werden seine kritischen Erzähler widersprechen und die Richtung des angemessenenWeges zur Wahrung der Würde der Menschen zurückweisen. Das gleiche gilt für die Unterdrückung von Minderheiten und für die Duldung von Intoleranz, oder wenn es mit seinen humanen Standards der Rechtsstaatlichkeit vor der organisierten Kriminalität in die Knie geht.

Zu den entscheidenden Qualitäten und Zielen dessen, was die große Erzählung der europäischen Einigung in der Nachkriegszeit würdigt, gehörte von Anfang an der brennende Wunsch seiner Jugend, die blutigen Kriege der Nationalstaaten auf seinem Territorium endgültig in die Vergangenheit zu bannen.

So wie mit der Europäisierung der deutschen Frage versucht wurde, den deutschen Militarismus zu zügeln und deutschen Revanchismus zu zähmen, so werden in einem vereinten Europa auch Territorialkriege endgültig obsolet – jedenfalls solange es (und da sollte uns das ehemalige Jugoslawien ein mahnendes Beispiel sein) seinen Bürgern auch in den marginalisierten Teilen Gerechtigkeit widerfahren läßt, fremde Einmischungen abzuwehren weiß und mit der Akzeptanz seiner Zentralinstitutionen deren Integrität sichert.

Die Einheit in der Vielfalt sollte uns dabei besonders wichtig sein. Europa soll ein Territorium der ertragenen, der gebilligten und positiv gewerteten Vielfalt sein und – warum nicht? – anderen zeigen, daß eine solche Politik der Wohlfahrt den Menschen dienlich ist.

Der vielzitierte Artikel 128 des Maastrichter Vertrages formuliert in Absatz 1: „Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.“ Die Gemeinschaft leistet dies mit „Fördermaßnahmen unter Ausschluß jeglicher Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten“, wie es in Absatz 5 heißt. Das ist alles andere als ein fauler Kompromiß und ist auch keine wohlfeile Leerformel, sondern ein politischer Gestaltungsauftrag. Darin liegt eine der besonderen Chancen für Ansehen und Zukunft Europas.

Die Vielstimmigkeit Europas optimiert die Chancen seiner einzelnen Akteure, mit ihren Einsprüchen und Desideraten aktiv an der Gestaltung der europäischen Zukunft mitzuwirken. Die Möglichkeit, eigene Ansprüche anzumelden, sind daher nicht nur kein Hindernis für ein vereinigtes Europa, sondern dessen Voraussetzung. Einer der besonderen Vorteile der europäischen Vielfalt liegt ja gerade darin, daß ihretwegen alle Ansätze zu nivellierender Homogenisierung argumentativ zurückgewiesen werden können. Denn dieses Programm der Einheit in der Vielfalt darf sich nicht darin erschöpfen, Europa nun auf einer Art höherer Ebene zu einem homogenen Block zu verschmelzen, der wie einst die Nationalstaaten jetzt mit ähnlich geschlossenen Einheiten rivalisiert. Schon deswegen bin ich skeptisch gegen die allzu heftige Beschwörung der Formel von den europä-ischen Gemeinsamkeiten: Dafür plädieren vor allem jene, die sich gegen andere lieber abgrenzen möchten. Aber nicht betuliche Abgrenzung heißt die Perspektive, sondern Offenheit bei gleichzeitiger Strahlkraft, wie sie durch vorgelebte Qualität von Leben und Politik erzeugt wird.

Es kann beileibe nicht das Ziel sein, mit Europa die ”Erbfeindschaft“ Deutschland — Frankreich zu ersetzen durch den Anachronismus ähnlicher Feindschaften etwa zwischen Europa und der islamischen oder konfuzianischen Welt. Attraktiv ist Europa als globaler Partner nur dann, wenn es ganz bewußt bei der Suche nach globalen Strukturen miwirkt, mit denen wechselseitig akzeptierte Differenz gelebt werden kann und Andersheit als produktiver Faktor begriffen wird. Europa wird zur Geschichte mit offenem Ausgang, indem es einen Prozeß gestaltet, bei

dem die besseren neuen Akzentuierungen den guten alten weichen.

Zum Narrativ gehören unverzichtbar die Erzähler. Wie die Geschichte lehrt, können sie Wunder bewirken. Der Frankfurter Ethnologe Leo Frobenius überlieferte die wundersame Geschichte des afrikanischen Erzählers Far-li-mas, der einst im sudanesischen Königreich sich und seinem König das Leben rettete durch ”Erzählungen süß wie Honig, be-rauschend wie Haschisch“: Mit seinem Fabulieren hielt er die Weisen des Landes vom Beobachten des Laufs der Gestirne ab, und da konnten sie nicht mehr den richtigen Zeitpunkt des Opfertodes für ihn und für seinen König bestimmen…

Es sind die Erzähler der Geschichte Europas, die diesen Kontinent am Leben erhalten. Sie prägen lebendige Bilder, zu deren Ansichten sich einer bekennen kann. Solche sehenden Erzähler sollten gefördert werden, damit sie mit ihren Visionen in der Gesellschaft präsent sein können, um mit ihrer Phantasie, mit ihren Provokationen und ihren Inspirationen als produktives Ferment an der großen Erzählung Europa mitwirken. Mit dieser Geschichte ist unweigerlich unsere Zukunft verbunden, und deswegen sind unsere Ängste und Befürchtungen, aber auch unsere Hoffnungen und Wünsche darin enthalten.

Hilmar Hoffmann

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